Verlorene Bilder

"Vielleicht ist es gerade die Einfachheit der Sache, die Ihnen den Blick trübt."
E.A.Poe "The Purloined Letter"

Zu immer mehr Bildern lässt sich immer weniger sagen. Nehmen wir das Beispiel des frühen Frank Stella: die Bedeutung seiner einfachen Gemälde, die lediglich aus parallelen Streifen bestehen, erschöpft sich in Ihrer Erscheinung. "You see what you see". Die Sache wird nur dadurch kompliziert, dass jeder Betrachter nach mehr sucht als dem unmittelbaren visuellen Eindruck. Er befindet sich in der Rolle des französischen Präfekten, von dem Edgar Allan Poe erzählt: Der Polizist sucht bei einem intriganten Minister einen entwendeten, verfänglichen Brief. Aber er findet ihn nicht, weil er davon ausgeht, dass er versteckt sein muss. Dabei liegt er, vollkommen offensichtlich, in einer offenen Ablage. Es bedarf der Intelligenz des Detektivs Dupin, um das Verborgene im Offensichtlichen zu erkennen.

Eine Achterbahn ist eine Achterbahn, ein Kirschbaum ist ein Kirschbaum... Was soll man dazu anderes sagen, als dass auch bei Klaus Hartmann die Dialektik des evidenten Inhalts arbeitet. Man sieht was man sieht: Das Gartentor grenzt ein Privatgelände ein. Der Eigentümer ist nicht da, aber das sorgfältig gestaltete Tor spiegelt seine Persönlichkeit; Sonne, Bäume, Palmen verraten den kleinbürgerlichen Traum von unbegrenzter Freiheit. Teilt ein Vertreter zeitgenössischer Kunst diesen Geschmack einer speziellen Gesellschaftsschicht oder will er ihn denunzieren? Was die Bilder von Klaus Hartmann angeht, lässt sich darauf keine Antwort geben. Er ist weder ein Kleinbürger, noch begibt er sich in die Position eines distanzierten Kritikers, der vorgibt zu wissen was guter Geschmack ist - ein Sympathisant. Wert und Risiko dieses Einfühlens lassen sich daran bemessen, dass sie kaum für eine Karriere zu instrumentalisieren sind. Gerät die Empathie zur Masche, büsst sie ihre Glaubwürdigkeit ein.

Das alles erscheint vollkommen offensichtlich und deshalb schwer zu entdecken. Genauso drängt sich auf, dass zum Beispiel die "Wilde Maus" eine kunsthistorische Paraphrase ist. "Hartmanns Boogie Woogie", wie er sagt, der damit in aller Bescheidenheit auf die letzten Gemälde von Piet Mondrian anspielt. Jedes Gemälde hat eine Grammatik und diese Grammatik hat eine Geschichte. Bei Hartmann sind die kunsthistorischen Bezüge nur offensichtlicher als bei anderen Malern. Stets wird das Bildvokabular des bürgerlichen Heldenlebens benutzt, um auch noch Probleme von Fläche und Raum, Perspektive und Kolorierung, mitzubehandeln. Nicht nur die Theorien des Konstruktivismus werden dabei aufgegriffen. Die Schneefelder auf einigen Gemälden spielen auf Clifford Still an und meinen den Gestus des abstrakten Expressionismus. Es fällt schwer, für das Verhalten des Doppelagenten Gründe zu nennen. Nehmen wir das offensichtlichste: die Neigung. Hartmann mag Kleingartenkolonien, Rummelplätze und Kriminalfilme, dennoch entzieht er sich nicht den Qualitäten und Einflüssen der Malerei der Moderne. Es spricht, finde ich, für Klaus Hartmann, dass er sich dem Trend zur abstrakten Malerei nur unter diesem Vorbehalt überlässt.

Es gibt übrigens noch jemanden, der über die Offensichtlichkeit nachgedacht hat: den Sprachtheoretiker und Ästhetiker Roman Jakobsen. Er hat bemerkt, wie die alltägliche Routine allmählich dazu führt, dass Einzelheiten immer weniger in unser Bewusstsein vordringen. Und er sah die Funktion moderner Kunst darin, diesen Automatismus zu brechen, die Dinge wieder unserem bewussten Wahrnehmen zu erschließen. Hartmanns Bilder sind in diesem Sinne nicht nur post-abstrakt, sondern auch post-modern: sie setzen alles daran, nicht aufzufallen. Oder nur ein wenig aufzufallen. Oder so aufzufallen, wie einem gelegentlich Dinge im Alltag ins Auge stechen.

STEPHAN SCHMIDT-WULFFEN

Der Text ist erschienen im Katalog zur ersten Einzelausstellung von Klaus Hartmann, herausgegeben von der Jürgen Becker Galerie Hamburg.
© 1998 Stephan Schmidt-Wulffen, Jürgen Becker, Klaus Hartmann