Nicole Büsing und Heiko Klaas über Klaus Hartmann

Die Werbestrategien des Einzelhandels treiben mitunter merkwürdige Blüten, die einem aufmerksamen Alltagsbeobachter wie dem Hamburger Maler Klaus Hartmann natürlich nicht entgehen. So entdeckte der 34jährige kürzlich in seiner Straße in St. Pauli in der Auslage eines Strümpfe-Großhandels ein verstaubtes Schild mit den abblätternden Buchstaben "Socken Import". Bunt darauf verteilt wie Streublumen fanden sich verschiedene Ziffern, und als eingetrocknete Zeichen der Vergänglichkeit klebten tote Fliegen auf dem traurigen Schild. Klaus Hartmann hielt dieses Fundstück des städtischen Alltags mit der Kamera fest. Inzwischen sind nach dieser Fotografie eine Collage und ein Gemälde entstanden. Und die bunten verrutschten Ziffern tauchen auch auf Hartmanns neuesten Bildern wie ein von Ferne grüßendes Zitat immer wieder einmal auf. Der "Socken Import" hat somit in den Kunstbetrieb Einzug gehalten und ist sogar zum rätselhaften Ausstellungstitel geworden. In der Reihe Standpunkt in der Hamburger Kunsthalle sind zur Zeit neuere Arbeiten von Klaus Hartmann eben unter diesem Titel zu sehen.

Karge bläulich-braune Landschaften im fahlen Winterlicht, hoch aufragende Achterbahnen und Riesenräder ohne Gefährt, notdürftig mit Plastikplanen gegen den Wind geschützte Holzbaracken und Strandkabinen in der Nachsaison - Klaus Hartmanns Gemälde erzählen von einer verlorenen Welt ohne Menschen, vom geisterhaften Ambiente des Hinterher oder des Davor. Es wohnt ihnen eine melancholische Spannung inne, der eingefrorene Moment einer Erzählung - auch wenn die Protagonisten fehlen. Was wir auf Klaus Hartmanns Bildern sehen, sind Schauplätze möglicher Erzählungen. "Der Mensch interessiert mich weniger", so Klaus Hartmann. "Mich interessieren wirklich die Dinge. Die Dinge sagen oft mehr über die Menschen aus als die Figur selbst." Seine bevorzugten Bildmotive sind Schrebergärten, Riesenräder und Achterbahnen auf Jahrmärkten, Brückenüberführungen, Modellwelten mit Schienensträngen, Rettungsschwimmertürme, Bahnwärterhäuschen oder Strandszenerien. Improvisierte oder in die Jahre gekommene Architekturen. Nostalgische Kindheitskulissen, die längst gehörig Patina angesetzt haben. Vieles wirkt, wie in Abwicklung begriffen. Die vertrauten Oberflächen des Alltags in ihren unbewohnten, verlassenen Settings deuten Geschichten an, die collagenhaft aufblitzen, ohne einen narrativen Faden greifbar zu machen.

So zum Beispiel der "Mäusekönig", eine gesichtslose comichafte Rummelplatzfigur als Dompteur mit der Peitsche, den Hartmann bei einem Jahrmarktbesuch entdeckte. Oder seine detaillierten Beobachtungen aus dem Dekor von China Restaurants, dieser allzu oft misslungenen Mischung aus verkitschtem Asia-Schick und exotischer Fern-Ost-Romantik, die besonders in der westlichen Welt bei den speisenden Gästen gut ankommen soll: Eine bunte Lichterkette, eine leicht bekleidete Madame Butterfly und eine Hydrokultur mit exotischen Pflanzen machen das angedeutete Asienbild, wie es sich der Europäer zurechtgelegt hat, perfekt. Chopsuey für die Augen eben.Hartmann ist stets auf der Suche nach den Merkwürdigkeiten des Alltags, den unerfüllten Glücksversprechen des Kleinbürgeridylls: Ob in der grauen Nordsee-Stadt Bremerhaven, wo er ein halbes Jahr lang als Stipendiat gelebt hat, oder in einem Dorf im Burgund, wo ihm ein Doppelbriefkasten auf einem kleinen Platz auffiel. Es entstand das fast schon abstrakte Gemälde "Residence de la Balance". "Ich male keine perfekte Bauhausarchitektur", erläutert er. "Mich interessiert eher etwas, wo jemand schon dran gearbeitet hat."

So entwirft Hartmann eine fast tragische, fast entrückte Welt: Auf dem 1999 entstandenen Gemälde "Verlorene Häuser" entdeckt man zwei kleine Hütten in einer Sumpflandschaft. Die linke steht auf kleinen Stelzen und ist notdürftig mit Planen abgedeckt, sie scheint noch im Bau zu sein oder nie richtig fertig geworden. Gitterstruktur und Farbgebung erinnern an die Kompositionen Piet Mondrians. Die rechte hingegen wirkt windschief und in den Untergrund eingesunken. Sich verlierende Schienen führen im Bogen auf das Häuserpaar zu. Der Himmel schimmert dramatisch-gewittrig. Eine erwartungsvolle Spannung schwebt über dem Ensemble und wartet geradezu auf eine Entladung. Eine Bühnensituation, ein Innehalten vor dem Beginn des Fünften Aktes, vor dem Showdown. High Noon im Schrebergarten.

Das 1997 entstandene Gemälde "Versteck" zeigt ein barackenartiges Haus mit Fensterläden inmitten eines winterlichen Stoppelfeldes. Einige aufragende, vertrocknete Halme neigen sich im Wind, der blau-weiße Himmel mit weißen, seidig glänzenden Eiswolken strahlt Kälte aus. Der Titel "Versteck" weckt Assoziationen. Wird hier ein Entführungsopfer gefangen gehalten, oder hat sich hier bloß ein Landstreicher verkrochen? Das Haus mit seinen zwei geöffneten Fensterläden scheint zurückzugucken, den Betrachter zu beobachten.

Klaus Hartmann, der 1969 in Eisleben geboren wurde und 1991 zum Studium beim beißenden Ironiker Werner Büttner an die Hochschule für bildende Künste nach Hamburg kam, grenzt sich bewusst von den gehypten Malerkollegen aus Leipzig um Neo Rauch ab. Er möchte Etiketten und Labels vermeiden, seine Unabhängigkeit bewahren und nicht die Marktmechanismen bedienen. "Ich gehe gar nicht unbedingt von der Malerei aus³, betont er und nennt lieber Fotografen wie Robert Frank und Walker Evans als seine Referenzfiguren. Wie bei den Amerikanern geht es Hartmann um spontane Momentaufnahmen und um Stimmungen. Aber auch um Alltagsbeobachtungen: Schaufensterauslagen mit kuriosen Gegenständen, Werbeschilder mit interessanten, einprägsamen Typografien, die Weite der Landschaft in der Provinz mit endlosen Landstraßen bis zum Horizont, einfache Holzfassaden im Sonnenlicht.

"Ich finde die Haltung gut, dass man etwas von der Welt beschreibt über Details", erläutert Klaus Hartmann die Vorgehensweise des schweizerisch-amerikanischen Fotografen Robert Frank (*1924). Seine eigene Methode ist die der schrittweisen Annäherung, des Ausprobierens und des Offenhaltens verschiedener Möglichkeiten. Wie ein Flaneur durchstreift er seine Umgebung, sei es zu Hause in den Straßen von St. Pauli, in der Bauhausstadt Dessau oder in einem im Niedergang begriffenen Skulpturenpark, den er während einer China-Reise entdeckt hat. Dann entstehen zahllose Fotografien, die er wie ein Skizzenbuch als Arbeitsgrundlage und Quellenfundus benutzt für seine Zeichnungen, Collagen und Gemälde. Ausgangspunkt sind oft Dinge, die zum Alltag gehören, aber auf den ersten Blick dem normalen Betrachter gar nicht auffallen. Nicht ganz sorgfältig aufgebrachte Klebebuchstaben an Schaufenstern beispielsweise oder die fertigen, illustrativen Malereien im Stadtbild, wie man sie auch auf Rummelplätzen und in Vergnügungsparks finden kann, interessieren Klaus Hartmann. Daran arbeitet er sich ab, integriert Versatzstücke in seine Bilder, variiert die Farben und wählt kühne Ausschnitte und Aufsichten. Manche Bilder wirken wie eingefangene Blicke aus dem Autofenster im Vorüberfahren. Trotz der Vertrautheit der Motive, lässt er eine Distanz entstehen, eine post-moderne Welt voller Fragezeichen, aber auch mit einer leisen Melancholie, gespeist durch eine irreale Farbigkeit. Eine Welt der Zwischentöne, der flimmernden Luftgebilde und der Potemkinschen Dörfer. Testbilder für die Wahrnehmung. Fast schon hat man die romantisch-melancholischen Songs des Jazz-Trompeters und Sängers Chet Baker aus den 1950er Jahren im Ohr, eine triste Mischung aus Verträumtheit und Ernüchterung, zwischen "Let´s get lost" und "The thrill is gone".

Hartmann geht zwar von einer hellwachen Natur- und Alltagsbeobachtung aus, aber seine Bilder sind die malerischen Konstrukte eines obsessiven Motivsammlers, der mit ironischer Distanz Bilder aus leicht wiedererkennbaren Versatzstücken montiert. Da kann das Wasser in einem Swimming Pool auch schon einmal in schreiendem Pink daherkommen. Auf seinem kleinformatigen Gemälde "Pink Pool" stehen ausnahmsweise einmal zwei kleine Mädchen am Beckenrand. Doch gleich schon werden sie womöglich unter der Wasseroberfläche verschwunden sein, und das Bild ist so menschenleer wie alle anderen.

Auch wenn Klaus Hartmanns Bilder eindeutig im europäischen Kontext verwurzelt sind und gerade nicht die unendiche Weite und Großspurigkeit amerikanischer Landschaften versprühen, so kommen einem doch Sätze aus Jack Kerouacs Tramper-Epos "On the Road" aus dem Jahre 1955 in den Sinn, beispielsweise dieser: "Das Ende unserer Reise stand bevor. Große Felder breiteten sich zu beiden Seiten aus; ein stolzer Wind wehte durch die verstreuten riesigen Haine und über alte Missionshäuser, die in der späten Abendsonne lachsrosa leuchteten. Die Wolken waren nah und riesengroß und rötlich gefärbt....Und jetzt waren wir dabei, das Ende der Straße zu erreichen."

NICOLE BÜSING    HEIKO KLAAS

erschienen in artist Kunstmagazin 60 3/2004
© Nicole Büsing Heiko Klaas artist Kunstmagazin